Vorderseite von „The Gramophone“ Mai 2019. Die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla dominiert. Wahrlich eine Ehrung. Denn diese sehr englische ‚monthly‘ ist die älteste der Welt in Sachen Tonträger und die am meisten renommierte für „klassische Musik“ (founded in 1923).
Geschrieben von Ingemar Schmidt-Lagerholm.
Liebe Leser! Die damals zehnjährige Mirga / Mirgutė gewinnt 1996 ein Gesangswettbewerb im Fernsehen mit dem Kleinlied ”Gera būtų“. (Es wäre gut, wenn …). Dem Zuhörer drei Minuten Staunens über ihre Artikulation. Hier ist der Link. Youtube (https://www.youtube.com/watch?v=wUXv6uTsIfI)
Sigitas Geda (1943-2008)
Strazdelio dainos (Kleine Spatzenlieder), gedruckt 2005
Übersetzung: Ingemar Schmidt-Lagerholm
- Gera būtų nemiegot,
Es wäre gut nicht schlafen zu müssen - Gera būtų nekvailiot,
Es wäre gut sich nicht dumm zu stellen - Gera būtų pamiegot,
Es wäre gut nur ein Nickerchen zu nehmen - Gera būtų pakvailiot.
Es wäre gut nur etwas zu nörgerln - Gera būtų, kad nebūtų,
Es wäre gut nicht zu sein - Gera būtų kad nepūtų,
Es wäre gut nicht zu verrotten - Gera būtų, kad supūtų,
Es wäre gut nur ein bißchen zu schwitzen - Kad supūtų, būtų putų.
Ein bißchen zu schwitzen sollte das Leben sein
(Kein Stress
keine Ûberanstrengung
nur etwas zupacken)
Im schreibenden Moment (Juli 2019) hat Mirga Gražinytė-Tyla das sehr frauenhafte Alter von 32 Jahren inne. Ein männliches Kind hat sie gerade geboren. Ideal für eine berufstätige Frau mit Ausbildung und die nur am Anfang einer Karriere ist. Pause und Kind. Schon mit 13 hatte sie als Chorleiter begonnen.
Zur Welt kam sie in der litauischen Hauptstadt Vilnius am 29 August 1986. Von sehr musikalischen Verwandten hauptsächlich zu Hause ausgebildet. Am Gymnasium „Čiurlionis“ (T.Kosciuškos g 11) hat sie zuerst Kunst/Gewerbe studiert. Später eigentlich nur Musik: Chorleitung und Klavier. Ab ihren zwanzigern wird sie eher konventionell in Westeuropa ausgebildet, vor allem in Österreich.
Hochkarrätige Dirigentin eines klassischen Sinfonieorchesters. Um hundert vollkvalifizierte Musiker. So etwas leistet heutzutage eigentlich nicht nur diese tolle Litauerin. Nicht selten multitalentierte, Simone Young Klarinette. Barbara Hannigan dirigiert und singt im Luonotar von Sibelius. Ähnliches wäre auch beispielsweise in der dritten Sinfonie vom Dänen Carl Nielsen möglich.
Wir verweilen beim litauischen Namen der Mirga, dreigeteilt. Mirga einfach der Vorname einer weiblichen Person. (Mirgutė als Koseform). Gražinytė muß der Namensform nach eine nicht verheiratete Tochter sein. Die Mutter heißt da Gražiniene, der eheliche Vater Gražinis.
Als abschließendes Glied kann eine Erfolgreiche Frau den Namnen ihres Gatten anhängen.
Und Tyla bedeutet „das Schweigen“ (SILENTIUM). Was sie unbedingt braucht, wenn sie sich vorbereitet und Partituren studiert.
Als Mirga im Jahre 1996 auftritt mit „Gera būtų“ und Text von Sigitas Geda ist dieser Schriftsteller und Kulturperson besonders populär und beliebt. Es braucht keinerlei Erklärung wer und warum. Eine kleine Gruppe mit wenigen Instrumenten begleitet sie. Da bekommen wir keine Auskunft.
Erwähnt wird der Komponist Mieczyslaw Weinberg // Moyshey Vainberg (1919-1996). Mit oder ohne Endung -slaw (‚was man lieb hat‘) ist Vainberg ein postsovjetisches Fenomen. Und ich versuche sein Verhältnis zu Sjostakovitj (1906-1975) zu definieren.
Nach außen ist Vainberg weicher, weniger brutal. Nach innen ist Vainberg schärfer, schutzloser.
Ein Projekt mit seinen Werken ist was in der Luft liegt mit City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO). Dieses Orchester ist ehrenreich verknüpft mit Simon Rattle och Sakari Oramo. Nun ist Mirga Gražinytė-Tyla für etliche Jahre die ernannte Chefin dieses Orchesters.
Ein Talent, gewiß. Ab und zu wirft man ihr eine Agogik vor mit zu viel Akrobatik. Es liegen als CD-Album zwei Vainberg-Sifonien vor. – Nummer zwei und Nummer 21 (Kaddisch). Eine Besonderheit mitten drin ist ein Solo für Kontrabaß. Klettert und klettert mit fünf Saiten. Und hört euch bitte an, wie das Xylofon von einer gröblichen piziccato Geige verfolgt wird.
Und ganz am Schluß dieser großen kammerähnlichen Sinfonie singt Mirgutė ‘ohne Worte‘ mit der gleichen mädchenhaften Stimme wie damals.
Programmatisch in der postsowjetischen Nähe von Vainberg und (Kaddish = Holocaust-Trauer) gibt es ja Górecki, Penderecki, Gubaidulina, Pärt, Saariaho. Desjatnikov. Anders und spannend wäre ”Ilja Muromets” (1911) von Gliere.
1) Vainberg Sinfonie 21 Dir. Mirga Gražinytė-Tyla.
2) Vainberg Sämtliche Streichquartette 1-17
Ingemars Unterrichtsauftrag in Vilnius April 1994.
I S-L